Der Sturm hat die Wolken einfach weggepustet, die Sonne strahlt, nicht eine einzige Wolke ist zu sehen. Das Tintenblau des glasklaren Meeres, leuchtendes Grün in allen Schattierungen und das helle Himmelblau sind die Farben des Tages. Dazu kommt noch etwas Weiß von den Schaumkronen auf dem Wasser. Denn der starke Wind bleibt uns erhalten und lässt keinen Gedanken an einen warmen Sommertag aufkommen. Mehr als 13 Grad werden es heute nicht.
Entlang der Strandirküste
Von Drangsnes geht es am 14.8. immer entlang der Küste und der vielen kleinen und großen Fjorde auf den ungeteerten Straßen 645 und 643. Der Belag ist überwiegend gut, doch es gibt etliche Passagen, die nur aus Schlaglöchern zu bestehen scheinen. Ein guter Indikator für den Straßenzustand ist unsere Kochkiste, die nach einigen Kilometern scheppernd vom Schrank fällt, Kochtöpfe, Teekessel und Besteck verteilen sich auf dem Fußboden im hinteren Teil des Busses. Alles ist rasch wieder eingeräumt, die Kiste bleibt nun auf dem Boden, wo sie kein Unheil mehr anrichten kann. Eindeutig eine Straßenqualität zweiter Ordnung.
Die Landschaft im klaren nordischen Licht dagegen ist absolut erstklassig. Die unbewohnten Fjorde werden begrenzt von schroffen Bergen, die steil bis zu 400 Meter ins Meer abfallen. Das Sträßchen windet sich kurvenreich am Wasser entlang, mal unten am mit Treibholz übersäten Kiesstrand, mal hoch oben an schottrigen Steilhängen. Dazwischen liegen Steigungen und Abfahrten von 10-14%. Der Wind ist wieder so heftig, dass wir kaum die Autotür auf bekommen und der Sandfloh Mühe hat, die Spur zu halten. Mit dem Auto gleiten wir mühelos durch dieses Traumkulisse und können die grandiose Schönheit unbeschwert genießen. Auf dem Rad hätte man bei diesem Sturm genug damit zu tun im Sattel zu bleiben und irgendwie voran zu kommen.
Es gibt keine Orte an dieser Küste, nur sehr selten einzelne weiße Fischerhäuser. Oft sind sie verlassen oder werden als Ferienhaus genutzt. Noch nicht einmal 7000 Menschen leben in den Westfjorden, vor 100 Jahren waren es noch doppelt soviele. Hier ist die Landflucht in Island am stärksten ausgeprägt, denn in diesem abgelegenen Teil des Landes sind die Winter stürmisch, dunkel und schneereich. Oft sind die Straßen dann nicht passierbar. In Djupavik existiert noch eine Ansiedlung von einigen, nur im Sommer bewohnten, Häusern und eine verfallene Fischfabrik, tief in einem engen Fjord gelegen, durch den der eisige Wind fegt. In den goldenen Zeiten des Heringbooms bis in die 1955er Jahre arbeiteten hier mehrere hundert Menschen.
Schwimmbad am Ende der Welt
Die Straße 634 ist eine fast 100 Kilometer lange Sackgasse. Wir fahren bis zum Fischerhafen Nordurfjördur, wo es einen Bauernhof, ein kleines Geschäft, eine Tankstelle und einen Campingplatz gibt – und in nur 15 Kilometern Entfernung einen Flughafen, der ein bis zwei Mal pro Woche einen Flug nach Reykjavik anbietet. Im Winter, wenn die Straßen wegen Schnee unpassierbar sind, ist dies die einzige Verbindung zur Außenwelt. Rund 4 Kilometer nördlich von Nordurfjördur gibt es das wohl einsamste Schwimmbad Islands mit einem badewannenwarmen Schwimmbecken und einem wirklich heißen Hot Pot direkt am Strand, grandioser Fernsicht über das Polarmeer und die Küste inklusive. Wir planschen im Wasser, während der Sturm über die See peitscht und Wasserfahnen über den Wellen tanzen läßt. Phantastisch.
Wie absolut privilegiert wir als “hauptberuflich“ Reisende sind, wird uns klar, als wir die Unterhaltung eines deutsches Pärchens mitbekommen, das mit uns im Schwimmbad angekommen ist. Er zu ihr: “Wir sollten uns beeilen, um 18:00 Uhr müssen wir im Hotel sein“. Sie zu ihm: “Ok, gib mir ein paar Sekunden.“ Nach nur wenigen Minuten im Wasser und einigen Selfies als wohl einzige Erinnerung sprinten beide hektisch wieder in die Umkleidekabine. Kurze Zeit später sehen wir sie im Auto fortfahren, um das nächste Ziel ihrer Sightseeing-Liste abzuhaken. Bedauernswerte Menschen. Wir dagegen als Zeit-Millionäre aalen uns faul wie die Seehunde noch lange im Hot Pot und sind komplett entschleunigt. Das ist der Unterschied zwischen Konsum und Er-leben, zwischen Kurzurlaub und Reisen.
Ein kleiner Strandspaziergang, bei dem uns der Sturm fast die Beine wegbläst, und ein Abstecher per Auto über eine holprige Piste in einen Nachbarfjord mit grandiosem Blick auf den Gletscher Drangajökull runden den Tag ab. Auf dem direkt am Meer gelegenen Campingplatz in Nordarfjördur schlagen wir am Nachmittag unser Quartier auf. Hier treffen wir Mareike, eine junge deutsche Foto-Journalistin, die Recherchen für einen Bericht zu einem umstrittenen Staudammprojekt macht. Sie ist einigermaßen verzweifelt, weil der Sturm soeben ihr Zelt der Länge nach zerfetzt und das Gestänge zerbrochen hat. Mit Reparieren läuft da wahrscheinlich nichts mehr. Nach kurzem Überlegen bieten wir ihr unser Einerzelt an, das ich für meine Wanderungen mitgenommen habe. In den Westfjorden brauche ich es nicht und sie kann es sich ausleihen. Irgendwo werden wir uns unterwegs treffen, dann kann sie es uns wiedergeben. Erleichterung bei ihr und für uns das wirklich schöne Gefühl etwas Sinnvolles getan zu haben.
Nachts stürmt es immer noch heftig. Wir hören schon lange vorher, wenn sich eine Böe nähert, die dann fauchend wie ein wildes Tier über den Bus herfällt und ihn ordentlich durchschüttelt. Wir bleiben noch einen weiteren Tag in Nordarfjördur und nutzen das regnerische, aber endlich einmal windstille Wetter zum Faulenzen, für einen Spaziergang am Meer und zum Flicken eines Hinterreifens.
Wandertage in Ófeigsfjördur
Mareike fährt am nächsten Tag zusammen mit einem Einheimischen über die Piste F649 in einen benachbarten Fjord nach Ófeigsfjördur, um sich den potentiellen Standort des Staudamms an der Schlucht des Flusses Hvalá anzusehen. Auch wir wollen zum Wandern dorthin. Bis zum verlassenen Fischerort mit der Ruine einer Heringsfabrik im Ingolsfjördur ist die Schotterstraße 649 für normale Pkw gut zu befahren. Danach wird es holprig, aber mit stabilen Reifen machbar – und absolut lohnend mit traumhaften Ausblicken auf die einsame Steilküste. Schließlich erreichen wir nach ca. 17 Kilometern und einer Stunde Fahrt ab dem Abzweig von der Straße 643 einen nur im Sommer bewohnten Bauernhof und den aus einer Wiese am schwarzen Lavasandstrand und einem Holzhäuschen mit den Toiletten bestehenden Mini-Campingplatz Ófeigsfjördur. Quasi am Ende der Welt. Ab hier geht es nur noch mit 4WD und Bodenfreiheit weiter. Fast im Schritttempo rumpeln wir die letzten 3 Kilometer zum Ende der Piste durch eine breitere, ca 20 Zentimeter tiefe Furt mit steiler Auffahrt, tiefen Pfützen und über hochstehende Steine.
Dort beginnt an der Fußgängerbrücke über den Fluss Hvalá unsere Wanderung zum Wasserfall Dryjangi. Das Wetter ist wirklich heute ideal, windstill, sonnig und 13 Grad, so dass wir, mittlerweile gut an nordische Temperaturen angepasst, im kurzärmligen T-Shirt laufen. Wir folgen der Route einer lokalen Wanderkarte, Markierungen oder gar einen Wanderweg gibt es jedoch nicht. So etwas machen die Isländer nur in den touristischen Gegenden, hier sucht man sich normalerweise den Weg selbst. Das erhöht natürlich das Naturerlebnis, erfordert aber Orientierungsvermögen und ist in dem felsigen Gelände auch ziemlich mühsam. Für die 7 Kilometer Gesamtstrecke brauchen wir fast 5 Stunden. Aber der Anblick des über ca. 50 Meter in vielen Kaskaden in die Schlucht herabstürzenden Flusses lohnt alle Mühe. Mit Sicherheit ist dies einer der schönsten Wasserfälle Islands. Wir sind ganz alleine hier und kein Zeichen der Zivilisation stört das Naturschauspiel. Es wäre wirklich unendlich traurig, wenn dieses herrliche Fleckchen Erde dem Staudamm geopfert würde.
An der Campingwiese in Ófeigsfjördur schlagen wir unser Nachtquartier auf. Hier hören wir nichts außer den rhythmisch an den schwarzen Lavasandstrand aufschlagenen Wellen und dem Schreien der Seevögel. Lange sitzen wir noch draußen in der warmen Abendsonne, genießen den Blick auf die im klaren Licht liegende Bucht und die friedliche, fast meditative Stimmung. Für uns ist dies bisher der schönste Campingplatz in Island. Wie wäre es wohl, an einem solchen Ort, ohne Internet, Elektrizität und ohne der ganzen Betriebsamkeit des Alltags, eine Zeitlang zu wohnen oder gar den langen Winter zu verbringen? Durchaus ein sehr reizvoller Gedanke.
Am nächsten Morgen gibt es Frühstück in der warmen Sonne vor dem Bus und ein gemütliches Schwätzchen mit Mareike, die gestern noch sehr spät das Zelt hier aufgebaut hat. Wir liegen auf gleicher Wellenlänge und sie bereichert unsere traute Zweisamkeit. So werden wir mit sehr netter, interessanter Gesellschaft wirklich reich belohnt für unsere Zeltleihgabe und Mareike erhält einen Ehrenplatz in unserer Souvenir-Sammlung liebenswerter Reisebegleiter.
Heute steht wieder eine Wanderung auf dem Programm. Es geht von der Fußgängerbrücke 7 Kilometer entlang der Küste bis zu einer Bucht und einem Wasserfall und auf gleichem Weg zurück. Durch Heide und feuchte Wiesen mit seidigem Wollgras läßt es sich gut laufen, es gibt sogar meistens einen Trampelpfad. In den Buchten liegt massenhaft Treibholz, das nach einer 8 bis 10 jährigen Reise hier strandet. Die großen Baumstämme sind vom Salzwasser weiß gebleicht und rund geschliffen. Aber auch erschreckende Mengen von Plastikmüll werden angeschwemmt. Auch hier begegnen wir niemanden außer drei Schafen und einem Polarfuchs, der am Strand nach etwas Essbarem sucht. Das Heidekraut duftet süßlich, es gibt die ersten Blaubeeren. Wieder nimmt uns die weite Stille der Landschaft gefangen. Eine Genusstour bei 19 Grad und Sonne, in kurzer Hose und T-Shirt. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für diesen schönen Tag und das relativ einfache, aber erfüllte Leben auf Reisen. Nach 6 Stunden sind wir wieder an unserem Zeltplatz. Abends sitzen wir mit Mareike bis 22:00 Uhr draußen, essen und erzählen, dann treibt uns die Kälte in den Schlafsack.
Am Gletscher Drangajökull
Am nächsten Tag macht der Sommer eine Pause bei bedecktem Himmel und 8 Grad. Zu dritt fahren wir hinüber nach Nordarfjördur, wo Mareike für ihre Recherchen bleiben wird. Schade, dass unsere gemeinsame Zeit so kurz war, aber irgendwo in Island werden wir uns ja wieder treffen. Dann geht es zurück über die Straße 643 nach Drangsnes. Dort steht unser Sandfloh auf dem windigen Campingplatz zunächst fast alleine. Doch am Abend fällt eine Gruppe Jugendlicher aus Deutschland ein, die auf der geräumigen Wiese offensichtlich ein besonderes Bedürfnis nach sozialer Nähe haben. Jedenfalls sind wir plötzlich im Abstand von einem Meter umzingelt von Zelten. Ihr Auto stellen sie bequemerweise direkt vor unseres, so dass wir noch nicht einmal wegfahren könnten. Wir fühlen uns leicht bedrängt.
Es ist kaum zu glauben, wieder den ganzen Tag über wolkenloser Himmel und subjektiv als warm empfundene 14 Grad. Über die geteerte Straße 61 geht es mit 10% Steigung auf die Hochfläche der Steingrimmsheidi. Hier, auf knapp 400 Metern Höhe, wachsen nur noch Moose und Flechten, in geschützten Lagen auch flache Heide. Der Wind kann ungehindert über die Tundra blasen, im Winter ist die Straße gesperrt. Auf der steilen Abfahrt zum Meer bietet sich ein tolles Panorama auf den Isarfjardardjup mit den schneebedeckten Bergen rings um die Bucht. Die Schotterstraße 635 führt uns dann mit wenigen Schlaglöchern, aber einigem Wellblech am nördlichen Fjordufer entlang. In der Bucht Kaldalon biegen wir ab zum Gletscher Drangajökull. In einer fünfstündigen Tour kann man durch das Tal über Wiesen, Moränen und Schotterflächen bis zu einem Ausläufer des Gletschers laufen. Viele kleine Bäche sind zu queren, aber wir kommen immer gut über Steine auf die andere Seite. Von den bis zu 600 Meter hohen Berghängen strömen große und kleine Wasserfälle ins Tal. Jedoch bläst ein so ungeheuer starker Wind vom Gletscher hinab, dass das Wasser wieder bergauf fliegt. Es ist eine tolle Wanderung.
Die Straße 635 endet 9 Kilometer weiter nördlich bei Dalbaer an ein paar Häusern, die aber unbewohnt sind oder nur als Sommerhaus dienen, und einem winzigen Kirchlein. In absoluter Traumlage mit Blick über den Fjord und die für die Westfjorde typischen Tafelberge soll es hier einen Campingplatz geben. Die Wiese neben dem Gemeindehaus wird aber wegen Covid-19 zurzeit nicht als Zeltplatz genutzt. Wir dürfen trotzdem bleiben, denn dieser Platz ist zu schön, um weiter zu reisen. Abends gesellt sich noch ein älterer Herr aus Holland dazu, der als Fotograf seit Jahrzehnten nach Island reist. Er berichtet begeistert von seiner sechstägigen Wanderung im Naturreservat Hornstrandir. Die Halbinsel ist nur zu Fuß oder per Boot erreichbar. Ihre unberührte Natur ist berühmt und die über 500 Meter aus dem Meer aufragende Steilküste bietet die höchsten Klippen weltweit. Ein Traum für alle Wanderfreunde, den auch ich auf meine Wunschliste setze. Allein würde ich mich nicht in diese für Sturm und Nebel berüchtigte Einsamkeit wagen. Doch Gott sei Dank gibt es ja noch mehr Outdoorbesessene in unserer Familie…?
Bis zu ihrem Untergang um 22:00 Uhr sitzen wir noch in der Sonne, sehen zu, wie sich ihr Licht golden im Meer spiegelt und die bis zum Wasser herabreichenden Schneefelder an den Berghängen glitzern läßt. Island wird für uns zur Insel eines geradezu magischen Lichts. Einziges Geräusch ist das entfernte Rauschen eines Gebirgsbaches, der hier ins Meer mündet. Ein vom Rest der Welt entrückter Ort voller Frieden. Wunderbar.
Hornstrandir? Klingt gut. 🙂