Am 5.9. kommen wir vormittags in Hamningberg an. Die Fahrt hierher im Sturm entlang der dramatisch wilden Felsenküste war ein echtes Erlebnis. Es ist eine harte, kompromisslose Natur. Bäume und Büsche wachsen hier nicht mehr, nur Heidekraut gibt es an geschützten Stellen, ansonsten Flechten und Moose auf kahlen Steinen. Wahrhaftig keine Idylle, doch wir lieben solche Landschaften sehr.
Einen ganzen Tag verbringen wir in Hamningberg. Hier endet die einspurige Straße, danach kommt nur noch das Meer und irgendwann der Nordpol. Es wird die nördlichste Station unserer Reise sein. Das merken wir sehr deutlich an den für unser mitteleuropäisches Empfinden schon fast winterlichen Temperaturen. Bei nur 6 Grad und schneidenden Nordwind wachsen unsere Kleidungsschichten nach dem Zwiebelprinzip auf mittlerweile bis zu fünf Lagen an: Unterhemd, Kurzarmwollshirt, Langarmwollshirt, Fleecejacke, Regenjacke. Außerdem noch Regenhose, Handschuhe und Wollmütze. So sind wir gut gewappnet für eine ausführliche Erkundungstour.
Weit verstreut gruppieren sich knapp 20 alte Holzhäuser um die kleine rote Kirche. Es ist das unverfälschte Bild eines traditionellen norwegischen Fischerortes, denn Hamningberg ist eine der ganz wenigen Siedlungen, die im Zweiten Weltkrieg nicht von den Wehrmacht dem Erdboden gleich gemacht wurden. Auf dem kahlen Hügel oberhalb des Dorfes stehen noch die Reste der deutschen Bunkeranlagen und Geschützstellungen.
Das Leben war bestimmt nicht leicht in dieser rauhen Umwelt. Davon zeugen auch die verwitterten Holzkreuze auf dem Friedhof außerhalb des Ortes. Viele Kindergräber sind darunter, in denen Geburts- und Sterbejahr identisch sind. Auch die Ruhestätten einiger junger Männer und Frauen sowie das eines unbekannten Seenanns findet man. Hier lebte man vom Fischfang, der Ende der 1960er Jahre aufgegeben wurde. Seitdem ist Hamningberg nur noch im Sommer bewohnt. Uns gefällt dieser völlig untouristische, urige Dorf am Ende der Welt sehr. Am späten Nachmittag starten wir zu einer Wanderung entlang der felsigen Küste. Große Baumstämme liegen als Schwemmholz weit hinter der Strandlinie und lassen uns die ungeheure Kraft des Meeres ahnen. Einen Kilometer außerhalb des Ortes parken wir unseren Bus in einer Bucht direkt am steinigen Strand. Die einzigen Geräusche sind die Schreie der Möwen und das laute, gleichmäßige Rauschen der Brandung. Völlige Einsamkeit in einer Art und Weise, die wir in Mitteleuropa so nicht kennen. Wie wäre es wohl, hier eine Weile zu leben?
Die nächsten drei Tage rollen wir südwärts. Nach dem Vardangerfjord fahren wir den breiten Tanafluss entlang nach Finnland. Hier kommt uns nun die Vegetation mit sattgrünen Wiesen und den endlosen Wäldern vergleichsweise üppig vor. Die Herbstfärbung ist noch intensiver als vor einigen Tagen am Inarisee, ein wunderschönes Bild
Über die breite, wenig befahrene Europastraße passieren wir Inari, Ivalo und Sodankylä, wo wir auf den Campingplatz gehen. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit stehen noch ca. 30 Wohnmobile hier, für unser Empfinden relativ viele. Wieviel schöner ist es da, irgendwo in der freien Natur zu übernachten. Doch irgendwann sind halt eine Dusche und saubere Wäsche fällig.
Hinter Sodankylä geht es endlich von der langweilig breiten Hauptstraße auf einer Nebenstraße und zeitweise einer sehr schönen ungeteerten Piste nach Osten. Die Besiedlung wird nochmals dünner und hier begegnet uns so gut wie kein anderes Fahrzeug. Wir sind nun in Nordkarelien, wo selbst für finnische Verhältnisse die Hinterwäldler wohnen. Das wichtigste Zentrum in Nordkarelien ist die Stadt Salla mit 3.500 Menschen (und 10.000 Rentiere) im Gemeindegebiet. Statistisch gesehen sind das 0,6 Einwohner pro qkm, in Deutschland drängeln sich auf der gleichen Fläche dagegen 235 Menschen.
Nach rund 600 Kilometern ab der Eismeerküste erreichen wir unser Ziel, die kleine Siedlung Hautajärvi. Kaum vorstellbar, aber die ganze Zeit sind wir nur durch Wald gefahren, gelegentlich unterbrochen von weiten Mooren oder glitzernden Seen. Je weiter wir nach Süden kamen, desto höher wurden die Bäume. Besonders beeindruckend sind die Birkenwälder, die die ganze Landschaft vergolden.
Was den Nordamerikanern der Indian Summer ist, ist hier die „Ruska“. Dann leuchtet die Natur in den phantastischsten Herbstfarben rot, orange und gelb, bevor der lange Winter seine weiße Decke darüber ausbreitet. Dies ist die Zeit, in der die Finnen wandern gehen, denn nun sind die Wälder am schönsten und die ansonsten allgegenwärtige Mückenplage ist verschwunden.
Genau aus diesem Grund sind wir in Hautajärvi gelandet. Denn hier beginnt die „Bärenrunde“, der legendäre Wanderweg durch den Oulanka-Nationalpark entlang der russischen Grenze, den wir in den nächsten Tage erkunden wollen.