Am 6.Oktober erreichen wir Zentralanatolien. Die Fahrt zum kleinen Ort Kemaliye führt uns zunächst durch gelbes Grasland mit vielen steilen Hügeln. Es sieht aus, als hätten sich hier Riesen-Maulwürfe ausgetobt, aber es sind nur große Schotterhaufen, bedeckt von einer dünnen Vegetationsschicht. Zu gerne würden wir im Frühjahr noch einmal hierher kommen, um die Türkei als grünes, blühendes Land zu erleben. Orte gibt es auf der Strecke keine, es ist eine der einsamsten Gegenden in Zentralanatolien. Neben der Straße sind immer wieder Schneezäune gegen Verwehungen ausgebaut. So merkwürdig es jetzt im Sommer erscheint, die Winter hier sind hart und äußerst schneereich.
Dann geht es in die Berge des Munzur-Massivs, das Höhen über 3.300 m erreicht. Einige Kilometer hinter Arapgir fällt die Straße in steilen Serpentinen hinunter ins Tal des Euphrat, der auch hier zu einen großen See aufgestaut wurde. Nach vielen Kurven oberhalb des Flusses erreicht man den sehr schön gelegenen Ort Kemaliye mit seinen alten Holzhäusern, die wie Schwalbennester am Hang kleben. Doch die eigentliche Attraktion der Gegend kommt erst ein paar Kilometer später. Wir durchfahren den Karanlik Canyon (angeblich die nach dem Grand Canyon zweitgrößte Schlucht der Welt) über die Straße Tas Yolu (Steinweg), die mitten in die 600 Meter senkrecht abfallende Felswand oberhalb des Euphrat gebaut wurde.
Über 130 Jahre hat man dafür gebraucht, erst 2002 wurde die Piste fertig, die natürlich auch in der Hitliste der “gefährlichsten Straßen der Welt“ vermerkt ist. Der einspurige, sandige Schotterweg ist nur etwas über 2 Meter breit, die Ausblicke auf den mehrere hundert Meter unter uns fließenden, türkisfarbenen Euphrat sind surreal schön und erschreckend zugleich. Nichts für Leute mit Höhenangst, denn es gibt keine Absicherung zum gähnenden Abgrund, der sich nur ein paar Handbreit neben den Reifen auftut. Doch nach knapp drei Kilometern ist diese phantastische Gruselstrecke überwunden. Danach fährt man noch ca. 6 Kilometer überwiegend durch mehr als 20 schmale, unbeleuchtete Galerietunnel. Auch sehr spannend, fast wie auf der Geisterbahn, aber die Absturzgefahr ist zumindest gebannt. Eine supertolle Strecke, nach den türkischen Komfortstraßen wurde es wieder Zeit für ein kleines Abenteuer…
Direkt hinter dem Tas Yolu öffnet sich das Tal mit sanft zum Fluss abfallenden Wiesen und herrlichen Blick auf die schroffen Berge. Hier machen wir Mittagspause und weil es so schön ist, beschließen wir, für den Rest des Tages und die Nacht hier zu bleiben. Das ist eigentlich das allerbeste am Reisen mit dem Bus, dass man wirklich die absolute Unabhängigkeit hat, spontan dort zu bleiben, wo man will. Nachmittags gibt es noch ein kleines Gewitter, die dramatischen Wolken passen wunderbar zur wilden Gebirgslandschaft.
Am nächsten Tag geht es 200 Kilometer weiter über viele Hügel nach Divrigi. Der kleine Ort ist wegen seiner Großen Moschee berühmt. Doch leider wird das UNESCO-Welterbe gerade restauriert und wir können nur von außen einen Blick auf die kunstvollen Portale werfen. Ein Ausgleich ist jedoch die sehr ursprüngliche Altstadt mit ihren urigen, altmodischen und winzigen Geschäften für den alltäglichen Bedarf. Hier sind die Waren oft genau so alt wie die Ladenbesitzer, die Tee trinkend vor dem Eingang sitzen. Überhaupt gibt es in allen Orten von den Geschäften immer Sitzgelegenheiten für eine Tasse Chai ( Tee) und ein Schwätzchen zwischendurch. Das gehört zur gastlichen und sehr kommunikativen Kultur des Landes einfach dazu.
Durch das eintönige Hügelland Zentralanatoliens geht es weiter nach Westen. Abwechslung bringt das Mitnehmen eines alten Mannes, der kaum noch laufen kann und, mit einem riesigen Sack bepackt, per Anhalter unterwegs zu einem der nächsten Orte ist. Leider können wir uns mangels Sprachkenntnissen nicht wirklich verständigen. Daher nehmen wir gleich den nächsten Anhalter auch noch mit, ebenfalls ein alter Mann. Nun können sich die beiden Herren auf der Rückbank zumindest miteinander unterhalten. Herzlich fällt der Abschied von beiden aus, dafür braucht es dann keine Worte. Am späten Nachmittag finden wir einen schönen Stellplatz auf den Bergen, einsam inmitten von Stoppelfeldern mit weitem Blick ins Tal. Ein kleiner Abendspaziergang über den Höhenzug ist ein guter Ausgleich für die lange Autofahrt. Ganz ruhig ist es hier oben, man hört nur den Wind. Soweit das Auge reicht, reiht sich Hügel an Hügel. Ein paar einsame Bäume stehen auf den endlosen Weizenfeldern. Erst zu Fuß wird einem die Weite dieser Landschaft bewußt. Am Abend wird noch eine Ziegenherde an unserem Bus vorbei getrieben. Der Hirte, hoch zu Ross, grüßt freundlich. Dann sind wir wieder alleine.
Die Entfernungen in der Türkei sind groß, noch weitere 230 Kilometer sind durch die nicht enden wollenden Felder im zentralanatolischen Hochland zu fahren, dann erreichen wir Kappadokien. Die bizarren Tuffsteinfelsen mit ihren Höhlenwohnungen und -kirchen machen die Region zu einem Touristenmagneten. Göreme ist das Zentrum des Trubels. Der Ort besteht fast ausschließlich aus Hotels, Pensionen, Andenkenläden und Restaurants. Wir lassen den Bus am Ortsrand stehen und starten eine Wanderung durch die für ihre surrealen Felsformationen berühmten Täler. Und dort, wo man nicht mit dem Auto hinkommt, sind dann auch schlagartig keine Touristen mehr. Regen und Wind haben den weichen Stein zu phantastischen Feenkaminen und Pyramiden geformt. Ganze Dörfer mit mehrstöckigen Wohnungen und Kirchen sind in die wie ein Schweizer Käse durchlöcherten Felswände gebaut worden. Teilweise sind die Täler durch enge, niedrige Tunnel miteinander verbunden. Ein Tal ist stellenweise so eng, dass es keinen Weg mehr gibt und wir über Felsen und Leitern durch die Felsenklüfte klettern müssen.
In einer Kirche führt ein ganz niedriger Gang, durch den wir nur geduckt kriechen können, über Steinstufen steil hoch in eine weitere Etage. Die Gänge konnten durch schwere Rollsteine verschlossen werden, so dass man vor Angreifern sicher war. Es macht Spaß, hier herum zu kraxeln und wir fühlen uns in dem Felsenlabyrinth ein wenig wie Indiana Jones. Abends steht unser Bus auf einem Plateau an den Felstälern mit Premiumblick für den blutroten Sonnenuntergang. Die Landschaft wird in zarte Pastelltöne getaucht. Es könnte höchst romantisch sein, doch dann donnern Unmengen von Quats über die staubige Fläche und bringen die Touris zum Aussichtspunkt. Ganze Busladungen von Chinesen posieren für das schönste Selfie aller Zeiten. Es gibt viel zu schauen für uns. Doch kaum ist die Sonne weg, verschwindet auch die Touristenhorden und es herrscht Ruhe.
Zumindest bis um 5.00 Uhr morgens. Noch vor dem Weckruf des Muezzim erwachen wir durch ohrenbetäubenden Lärm. Überall um uns herum werden Heißluftballons mit riesigen Propellern aufgeblasen. Wie große, bunte Lampions erheben sie sich über die Felsentürme ringsumher und schweben, mit Touristen beladen, pünktlich zum Sonnenaufgang empor. Ein wirklich märchenhaftes Bild. Das finden wohl auch die vielen anderen Touris, die zum Zuschauen von Jeeps und Quads auf die Aussichtshügel gekarrt werden. Auch mit Pferden oder sogar Kamelen ist man unterwegs zum Fotoshooting. Gegen Bezahlung kann man sich auch nur mal so in einem Ballonkorb fotografieren lassen. Den Vogel schießen aber mal wieder die Chinesen ab, von denen etliche Brautpaare in Hochzeitskleidern vor den aufsteigenden Ballons posieren. Die Schönheiten Kappadokiens werden wirklich maximal vermarktet und gerade die chinesischen Besucher sind die Hauptkunden, die jeden noch so überteuerten Preis zahlen. Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Wir haben überhaupt nichts gegen Touristen, sind ja schließlich selber welche, und auch nicht gegen Chinesen. Nur dieser Massenauflauf und die endlose Selbstdarstellung per Foto in lächerlichsten Posen nervt. Was uns dabei stört, ist die extreme Egozentrik und oft große Rücksichtslosigkeit und die gnadenlose Zerstörung der Natur. Die Landschaft wird zum reinen Konsumgut und dient nur noch dem eigenem Prestige.
Gegen 9.00 Uhr ist dann das Spektakel vorüber. Wir fahren in das Tal von Zelve, wo eine Höhlensiedlung zu besichtigen ist, die sogar bis vor 60 Jahren noch bewohnt war. Die Wohnhöhlen erstrecken sich über mehrere Etagen in den Felswänden, es gibt außerdem Ställe und etliche Kirchen. Anschließend geht es in das Bilderbuchdorf Mustafapasa, mit vielen schön restaurierten Häusern und Höhlenwohnungen, die heute als Hotels genutzt werden. Nächste Station ist die unterirdische Stadt in Derinkuyu. Über acht Etagen unter der Erde erstreckt sich ein ganzes System aus Wohnungen, Kirchen, Lager-und Versammlungsräumen, die mit niedrigen Tunnel verbunden sind. Durch ein ausgeklügeltes Belüftungs-und Wasserversorgungssystem von bis zu 85 m tiefen Schächten war die Anlage autark. Einige tausend Menschen konnten hier bei Gefahr monatelang Zuflucht finden. Die Eingänge zu der Stadt wurden dann mit Rollsteintüren, die wie Mühlsteine aussahen, verschlossen. Eine spannende Entdeckungstour. Ein gemütlicher Nachmittagstee an einem Aussichtspunkt mit Blick auf den idyllischen Ort Uchisar rundet den Ausflug ab. Und zum Höhepunkt des Tages fahren wir dann auf einen echten Campingplatz, wo wir uns erstmals seit Tiblisi (d.h. nach ca. 4 Wochen) eine richtige, warme Dusche gönnen und unsere Kleidung in einer Waschmaschine waschen. Luxus pur.
Auch am nächsten Morgen weckt uns das Spektakel um die Heißluftballons schon um 5.00 Uhr. Aber das ist ganz gut, denn so sind wir bereits um 8.00 Uhr im Göreme Open-Air Museum. Das zu besichtigende Kirchen-Tal ist für seine wunderbaren Höhlenkirchen und vor allem wegen der herrlichen Fresken weltberühmt und so ist der Besucherandrang groß. Aber so früh am Morgen können wir uns alles noch in aller Ruhe anschauen. Danach stürmen wieder ganze Horden von permanent Selfi-schießenden Chinesen das Museum. Den Rest des Tages unternehmen wir eine Wanderung nach Ushisar durch das Zemi-Tal und Görkübdere-Tal auf dem Hinweg und zurück durch das Taubental. Das letzte Stück vor Uchisar wandern wir durch Obst- und Weingärten. Eine Bäuerin entdeckt uns und kommt mit Weinreben angelaufen, die sie uns schenkt. Als sie sieht, dass wir Rucksäcke dabei haben, schneidet sie noch viel mehr Trauben ab und überreicht sie uns freudestrahlend. Wir sind wieder einmal verblüfft über diese Herzlichkeit und bedanken uns mit Händen und Füßen. Olaf hat nun richtig zu schleppen. In den Tälern gibt es wieder sehr skurrile und surreale Felsenformationen zu bewundern und auch die ein oder andere Klettereinlage. Ushisar ist ein sehr schön an einem hohen Felsen gelegenes Dorf mit vielen Höhlenwohnungen, die z.T. noch genutzt werden, meistens aber als Hotel. Natürlich ist auch hier alles auf den Tourismus ausgerichtet.
Am späten Nachmittag fahren wir dann noch zur Ihlara-Schlucht, die wir am anderen Tag durchwandern. Die Schlucht ist bis zu 160 m tief und 15 Kilometer lang. In die steilen Felswände sind viele Höhlenwohnungen und etliche Kirchen sowie Klöster gehauen worden. Viele Kirchen haben noch schöne Fresken, die im unteren Bereich leider, wie auch an anderen Orten, meistens durch Krakeleien zerstört sind. Es ist unbegreiflich. Da haben diese wunderbaren Kunstschätze 1000 Jahre fast unbeschadet überstanden und dann müssen irgendwelche Schwachköpfe so enorm wichtige Mitteilungen wie “Ich war hier“ darin einritzen. Die Wanderung durch das Tal ist wirklich sehr schön. Es ist eine richtige grüne Oase mit dem klaren, plätschernden Bach, quakenden Fröschen, hohen Bäumen und zwitschernden Vögeln. Was für ein Kontrast zu den staubtrockenen Feldern rings herum.
In der Stadt Aksaray versuchen wir vergeblich einen Baumarkt zu finden. Für die Gepäckschublade im Kofferraum brauchen wir dringend neue Schrauben. Die jetzigen sind zu kurz und haben sich durch das Gewicht der beiden Wasserkanister gelöst, so dass die Schublade nun auf den Auszugsschienen schabt und auf Dauer kaputt geht. Wir suchen vergeblich nach einem Laden. Doch wie das immer so ist, findet sich bald unverhofft eine Lösung. Im Örtchen Sultanhani, wo wir mitten im Zentrum auf der Wiese einer sehr rustikalen, einfachen Pension zum Übernachten parken, führt der überaus hilfsbereite und perfekt Deutsch sprechende Inhaber Olaf zu einer Metallwerkstatt. Ein Griff in eine große Kiste und die passenden Schrauben sind gefunden. Sagenhafte 1 Lira, d.h. ca. 16 Cent kosten sie, was selbstverständlich unser Wirt bezahlt.
Abends besichtigen wir noch die Sehenswürdigkeit des Ortes, die größte Karawanserei der Türkei, die im 12. Jahrhundert gebaut wurde. Tahir, der Sohn des Pensionwirtes, hat uns den Tipp gegeben, hierher gegen 19.30 Uhr nach Ende der Öffnungszeiten zu gehen. Dann ist das Gelände nämlich noch zugänglich, aber völlig touristenfrei. Außerdem ist alles sehr schön beleuchtet. Was muss das früher ein buntes Bild gewesen sein, als die Karawanen von der Seidenstraße auf ihrem Weg Richtung Istanbul hier Rast machten. Danach schauen wir noch bei Tahir vorbei, der sein Geld mit der Reparatur von Teppichen verdient. Er zeigt uns, wie die Teppichknoten zu knüpfen sind. Eine wahre Geduldsarbeit, die ihm irre schnell von der Hand geht. Wir bekommen von seinem Vater einen guten türkischen Wein eingeschenkt und Tarek verrät uns leise, dass er nur noch darauf wartet, dass sein Vater gleich nach Hause geht, denn dann gönnt er sich heimlich sein Feierabendbierchen und eine Zigarette. Erstaunlich, dass der Sohn, der ja selber bereits zwei Kinder hat, mit fast 40 Jahren noch so unter dem Gehorsam des Vaters steht. Aber Tahir meint, das sei eine Frage des Respekts. Interessante Perspektive. Morgens serviert uns Tahir köstlichen Apfeltee zum Frühstück und wir schwatzen wieder lange. Ein unglaublich herzlicher, gastfreundlicher Typ.
Nachtrag: Nur wenige Tage, nachdem wir das Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien verlassen haben, ziehen die USA ihre Truppen aus Nordsyrien ab und unmittelbar danach beginnt am 9.10. die türkische Armee eine massive Offensive gegen Syrien. Mehrer als 130.000 Menschen sind auf der Flucht vor dem Krieg. Offizielles Ziel ist die Schaffung einer parallel zur türkischen Grenze verlaufenden, 30 Kilometer breiten “Sicherheitszone“ auf syrischen Territorium. Aus diesem Gebiet soll die kurdische Bevölkerung verdrängt und syrische Flüchtlinge aus der Türkei hier umgesiedelt werden. Dass die Menschen das alles nicht freiwillig tun werden, liegt auf der Hand. Wie viel Leid wird das kurdische Volk noch ertragen müssen?
Tolle Bilder und super geschrieben, Liebe Eltern!
Da wird man hier im regnerischen Deutschland ganz neidisch!!
Habt eine schöne Zeit!
Wow das ist ein schöner und spannender Bericht! Hab euch lieb!