Der Dempster, das sind 735 Kilometer Piste durch Wildnis mit zwei Siedlungen und zwei Tankstellen zwischen dem Abzweig vom Klondike Highway und dem Ziel in Inuvik sowie mehreren Forest Campgrounds. Bis zum Polarmeer sind rund 880 Kilometer zu bewältigen. Eine größere Panne sollte man unterwegs also nicht haben, das Abschleppen auf diesen Distanzen ist sehr teuer. Und weil das Ganze eine Sackgasse ist, muss man natürlich den gleichen Weg wieder zurück fahren.
Auf unserer Anfahrt zum Dempster Highway regnet es während des ganzen Vormittags. Das ist keine gute Voraussetzung, die Tour auf der ansonsten staubigen Piste wird bei Nässe schnell zur Schlammschlacht. Normalerweise ist der Dempster für alle Fahrzeuge machbar. Hier fahren jede Menge „normale“ Pkw, sogar mit Wohnwagen hinten dran. Das „ultimative Abenteuer für harte Kerle“, als das dieser letzte nicht asphaltierte Zugang zum Polarmeer gerne verkauft wird, ist es also nicht.
Doch prompt treffen wir am Beginn des Dempsters ein gigantisches, blitzsauberes Expeditionsfahrzeug, das in Ausmaßen und Ausstattung schon fast peinlich übertrieben wirkt. Ein Mercedes-Lkw mit drei Achsen, monströser Wohnkabine in Tarnfarben und kompletter Bergeausstattung – natürlich aus der Schweiz. Der Fahrer bietet angesichts unseres vergleichsweise zierlichen Landcruisers ernsthaft an, dass wir mit ihm zusammen fahren können, er könnte uns dann bei Bedarf „herausziehen“. Welche Abenteuer erwartet der denn hier und was für eine Beleidigung für unseren Master Yoda! Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wir sehen „unseren“ Schweizer unterwegs natürlich immer wieder, jedoch steht diese Festung auf Rädern nachts immer auf einem Campground, sicher ist sicher.
Von Dempster Crossing zum Polarkreis
Auf den ersten 40 Kilometern gibt es zahlreiche Schlaglöcher und Waschbrettstellen. Man muss gut aufpassen. Von den Bergen um uns herum sehen wir leider nichts. Nach 80 Kilometern durch Wald erreichen wir mittags das Besucherzentrum des Tombstone Territorial Parks. Master Yoda ist schon ordentlich mit Schlamm verschmiert, er sieht richtig gut aus. Aber der Regen hat aufgehört und wir können noch einen schönen Spaziergang am Northern Klondike River machen.
Hier oben in rund 900 Metern Höhe wachsen keine Bäume mehr, es beginnt die arktische Tundra. Was für eine überwältigende Berglandschaft – ein Wanderparadies, allerdings ohne Wege. Und mit der beginnenden Herbstfärbung sind wir genau zur richtigen Jahreszeit hier. Wir werden stark an Lappland erinnert. Wirklich traumhaft schön dann die Fahrt über den North Fork Pass, die mit 1.400 Metern höchste Stelle des Dempsters. Auf der Tundra-Hochfläche der Blackstone Uplands finden wir wieder einen einsamen Stellplatz, von dem der Blick weit über das mit buschigen Birken und Moospolstern bewachsene Hochtal reicht.
Morgens ist es kalt, die Standheizung läuft erstmals. Allerdings schaltet sie sich nach kurzer Zeit immer wieder aus, ohne dass das System einen Fehler meldet. Wir hoffen, dass wir das Problem beheben können, wenn wir wieder in der Zivilisation sind. Im Laufe des Tages wird das Wetter immer besser und richtig sonnig-warm.
Die Fahrt durch die Olgilvieberge ist ein absoluter Genuss. Es ist eine äußerst abwechslungsreiche Strecke, sie führt entlang des Blackstone Rivers und später durch das enge, felsige Tal mit dem Olgilvie River. In den durch herrliche Berge geschützten Lagen gibt es wieder Wald. Der Highway klettert schließlich 600 Höhenmeter auf die Seven Miles Hills mit großartiger Fernsicht. Über die vielen Höhenrücken der Eagle Plains und niedrigen Wald mit Blick auf die Richardson Mountains kommen wir schließlich zum Eagle Plains Hotel. Nach 365 Kilometern, auf halber Strecke, eine Oase der Zivilisation mit Übernachtungsmöglichkeiten, Restaurant, Campground und Tankstelle.
Vom Polarkreis zum Mackenzie River
Ca. 40 Kilometer später erreichen wir den Polarkreis, wo wir stilvoll eine Teepause machen. Hier ist nun wieder Schluss mit Wald, weite Täler mit Birkengestrüpp, Mooren und Heideflächen prägen das Bild. Kurz darauf ist ein wieder einmal großartiger Übernachtungsplatz erreicht. Abseits der Straße, totale Ruhe und ein toller Blick über die Tundra. Durch diese Gegend zieht in wenigen Wochen eine über 160.000 Tiere umfassende Caribouherde, die hier überwintert. Schade, wir sind etwas zu früh. Dafür können wir abends noch in der Sonne draußen sitzen, es wird die ganze Nacht nicht dunkel. „Echte“ Mitternachtssonne gibt es aber nur bis zur ersten Augustwoche.
Nachts entwickelt sich der Abendwind zu einem heftigen Sturm, der unseren Master Yoda beutelt. An Schlaf ist nicht zu denken. Olaf dreht den Wagen aus dem Wind. Nun ist es besser, aber die Zeltwände des Aufstelldaches knattern noch immer. Schließlich klappen wir um drei Uhr das Dach runter und ich mache es mir unten neben Olaf „bequem“. Schön kuschelig eng, aber immerhin ist jetzt Ruhe.
Durch die Richardson Mountains bleibt uns die offene Weite der Tundra erhalten, nur in den Tälern wächst wieder dichter Nadelwald. Wir trauen unseren Augen kaum, als wir einen einsamen Wanderer Richtung Norden auf der Piste entdecken. Er zieht einen überdachten Karren, in dem er wie in einem Miniwohnwagen auch schlafen kann. Eine optimale Lösung, denn in dem moorigen Gelände abseits der Straße kann man weder wandern noch ein Zelt aufbauen. Und die Distanzen zwischen den befestigten Plätzen in Straßennähe, auf denen wir übernachten, sind für Wanderer zu groß. Wir werden ihn auf unserem Rückweg wieder treffen. Daraus können wir seine Tagesleistung von ca. 35 Kilometern errechnen. Mit diesem Tempo benötigt er 26 Tage von Dawson City bis Tuktoyaktuk. Die körperliche Anstrengung auf der Piste dürfte dabei für einen geübten Wanderer kein Problem darstellen. Es ist wohl eher die enorme mentale Herausforderung, täglich diese Etappen ausschließlich auf einer breiten, öden und oft genug schnurgeraden Schotterstraße zurück zu legen, die uns enormen Respekt abverlangt.
Am White Pass queren wir erneut die kontinentale Wasserscheide und kommen von Yukon in die Northern Territories. Danach geht es bergab in das Tiefland des Mackenzie Rivers. Eine Seilfähre bringt uns über den Peel River, bald darauf ist Fort McPherson erreicht. Hier leben die Teltit Gwich’n First Nation, immerhin eine Gemeinde von 900 Einwohnern. Es gibt eine Tankstelle und einen gut sortierten Supermarkt, die erste Verpflegungsmöglichkeit auf der Strecke nach 590 Kilometern ab Dawson City, abgesehen vom Hotel Eagle Plains, wo es ja ein Restaurant gibt und man als Radfahrer oder Wanderer auch Proviantpakete hinschicken kann. Ganz nett ist ein Bummel durch den Ort.
Wie üblich sind die einfachen Wohnhäuser sehr schmucklos wegen des Permafrostbodens auf Stelzen gebaut und mit außen liegenden Versorgungsleitungen. Aber es gibt ein Café und ein paar Grünflachen mit Blumen. Kleine Kinder sausen auf Minimotorrädern und Motorscootern wild durch die Gegend, das beste Freizeitvergnügen hier. Die Leute grüßen uns freundlich, eine ganz andere Atmosphäre als im trostlosen Ross River vor einigen Tagen. Interessant ist für uns auch immer der Friedhof. Die Art und Weise, wie mit dem Tod umgegangen wird, sagt viel über eine Kultur aus. Man findet hier mit Plastikblumen geschmückte Gräber, liebevoll gestaltete Kreuze und Grabsteine mit Bildern. Dazwischen sehr alte, verfallene Grabstätten. Auffallend ist die hohe Sterblichkeit von Kleinkindern und jungen Erwachsenen. Und ungefähr 20% der Gräber sind in den letzten zwei Jahren entstanden – eine Folge von Corona, wie uns ein alter Mann erklärt.
Die restliche Fahrt führt uns durch die große Tiefebene mit einigen Seen und Sümpfen. Erstaunlicherweise wachsen hier, so weit im Norden, noch immer richtige Bäume auf den moorigen Ebenen – so weit das Auge reicht. Dem Wald entkommt man in Kanada wohl nie.
Auf dem Weg nach Süden begegnen uns zwei einsame Tourenradler. Eine Stunde später setzen wir mit einer weiteren Fähre über den Mackenzie River. Der Mackenzie River, mit 4.300 Kilometern der längste Strom Kanadas, ist hier einen Kilometer breit. Er sieht sehr imposant aus. Vor seiner Mündung ins Polarmeer verzweigt er sich ab Inuvik in ein riesiges Delta, wichtiges Angelrevier für die Inuit. Die Fähren verkehren nur im Sommer auf dem Mackenzie. Im Winter fährt man über den zugefrorenen Fluss und in der Zwischenzeit, wenn das Eis noch zu dünn ist, kommt man nur mit dem Flugzeug weiter.
Vom Mackenzie River nach Inuvik
Nördlich des Mackenzie wird das Gelände sehr flach, abgesehen von wenigen Einschnitten durch Bäche oder kleine Hügel. Die Straße folgt einer schnurgeraden Linie durch den sumpfigen Wald. Rechts und links von uns fliegen die Bäume vorbei, schauen wir jedoch nur geradeaus, haben wir den Eindruck, das Auto würde stillstehen. Eine absolut faszinierende Eintönigkeit.
Das einzige Highlight dieses Abschnitts ist eine Bärenmutter mit ihrem Kind am Straßenrand. Auf der Rückfahrt sehen wir an gleicher Stelle einen sehr großen Schwarzbären, der intensiv mit Beerenpflücken beschäftigt ist, zufrieden schnaubt und sich durch uns nicht im geringsten stören lässt. So können wir ihn aus nur ca. 15 Metern Entfernung in aller Ruhe aus dem offenen Autofenster beobachten. Ein beeindruckendes Erlebnis.
Kurz vor Inuvik hat die Piste dann tatsächlich ein paar Kurven. Ab dem Flughafen, vier Kilometer vor dem Ort, fahren wir wieder auf Asphalt. Die Nacht über hat es zu regnen begonnen und die Schotterfahrbahn ist stellenweise sehr aufgeweicht und mit tiefen Pfützen versehen. Yoda rollt als wahrer Schlammspringer nach Inuvik hinein.
Der hauptsächlich von Inuit bewohnte Ort ist mit 3.600 Einwohnern erstaunlich groß und hat eine sehr gute Infrastruktur. Es gibt ein nettes Infozentrum, etliche Geschäfte, eine Bücherei mit WiFi (wichtig für Reisende), ein Krankenhaus, Tankstellen, Campingplatz, mehrere Hotels und Restaurants. Der Supermarkt verkauft nicht nur Lebensmittel, sondern u.a. auch Möbel, Kleidung, Werkzeug, Autoreifen, Jagdausrüstung und sogar Skiscouter und Quats. Eben alles, was man hier zum Leben braucht.
Ebenso wie die Wohnhäuser sind alle übrigen Gebäude reine Zweckbauten. Orte, an denen man sich draußen aufhalten kann, gibt es nicht, nur am Mackenzie River finden wir einen kleinen Park. Genau wie in Fort McPherson sind die Häuser wegen des Permafrostbodens auf Stelzen gebaut. Die Wasserleitungen sind oberirdisch ebenfalls auf Stelzen verlegt.
Rückfahrt in die Zivilisation
Das Wetter zeigt sich bei unserem Besuch in Inuvik sehr ungemütlich. Regen und ein eisiger Nordwind lassen die 8 Grad deutlich kälter erscheinen. Fröstelnd flüchten wir nach einem Bummel über die Hauptstraße in die warme Bibliothek, laden den letzten Blogeintrag hoch und machen uns dann wieder auf den langen Rückweg. Auf die restlichen 130 Kilometer der erst 2019 gebauten Strecke nach Tuktoyaktuk verzichten wir angesichts des schlechten Wetters. Den „klassischen“ Dempster haben wir immerhin komplett befahren.
In der Nähe des Midway Lake sehen wie wieder den Wanderer mit seinem Anhänger. Er hat die typische muskulös-ausgemergelte Figur eines Long-Distance-Hikers und auch die dazu passenden hageren Gesichtszüge. Ob er wohl auf dem Transkanada Trail, der hier entlang läuft, unterwegs ist? Auf jeden Fall lernt er den Dempster in einer Intensität kennen, die für uns unerreichbar ist. Vergleichbar ist der Unterschied mit einer Bergtour. Wer aus eigener Kraft den Gipfel erklimmt, hat den gleichen Fernblick wie jemand, der mit einer Bergbahn hinauf fährt. Das Erlebnis ist jedoch völlig verschieden.
Wir treffen auch die Radfahrer wieder, als sie nach einer langen Steigung eine Verschnaufpause einlegen. Beide freuen sich über Bananen, die wir ihnen schenken. Verschwitzt und dreckig, doch mit strahlenden Augen berichten sie von ihrer Tour. Da werde ich fast neidisch. Jedenfalls solange das Wetter einigermaßen mitspielt. Ja, ich kämpfe noch immer damit, nun in einer Blechkiste unterwegs zu sein, statt zu Fuß oder per Rad die Natur zu erleben.
Am White Pass machen wir eine Pause. Endlich scheint die Sonne. Mich hält es nicht mehr im Auto, ein kleiner Spaziergang über die Heideflächen am Pass tut unheimlich gut. Endlich wieder Bewegung, frische Luft und Wind spüren.
Bald danach regnet es wieder anhaltend, die Schotterstraße ist stark durchweicht. Was für eine Schlammpiste. Jetzt tun mir die Radler wirklich leid, mit dem Rad ist das hier eine echte Tortur. Für uns macht sich Yodas Vierradantrieb bezahlt. Trotzdem fahren auch wir die insgesamt 150 Kilometer langen Teilstrecken mit besonders viel Schlaglöchern und Waschbrett nur mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 km/h. Auf dem Rest der Strecke kann Yoda doppelt so schnell sausen.
Am Abend parken wir nicht weit von der Straße in der Nähe des Ogilvie-Peel Viewpoint. Es drängt mich nach dem Essen angesichts des sonnigen Wetters zu einem kleinen Spaziergang. Da stehen plötzlich mitten auf der Straße zwei große Elche, nur ca. 20 Meter von mir entfernt. Wir beobachten uns gegenseitig lange Zeit, dann verschwinden sie im Gebüsch. Eine schöne Begegnung.
Am letzten Tag auf dem Dempster scheint sogar hin und wieder die Sonne. Bei kühlen 6 Grad können wir sogar draußen frühstücken, direkt am Olgilvie-Peel-Viewpoint, einem der schönsten Aussichtspunkte am Highway. Der Peel River liegt noch im Nebel, aber die ca. 200 Kilometer entfernten Berge werden schon von der Sonne bestrahlt. Besser kann ein Tag kaum beginnen. Obwohl wir die Strecke nun schon kennen, ist es kein bisschen langweilig. Am Nachmittag erreichen wir den Tombstone Territorial Park, Zeit für einen netten Zwei-Stunden-Spaziergang. Auf dem schönen Goldensides Trail, der uns 350 Höhenmeter auf einen Aussichtspunkt bringt, haben wir einen herrlichen Blick in das North Fork Klondike Valley. Am nächsten Tag sind wir dann schnell wieder auf dem asphaltierten Highway nach Dawson City.
Hat sich die lange Tour auf dem Dempster Highway in den hohen Norden gelohnt? Auf jeden Fall, denn die Schönheit der verschiedenen Landschaften hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen. Und es war sehr interessant, die Orte Fort Macpherson und Inuvik zu sehen, die als Außenposten der Zivilisation einen ganz speziellen Charakter haben.